Eingliederung im Fokus

Anfang 2022 trat die Weiterentwicklung IV in Kraft. Sie führt den eingeschlagenen Weg der vorherigen IV-Revisionen konsequent weiter. Eingliederung vor Rente heisst das Ziel. Die Weiterentwicklung fokussiert dabei auf Jugendliche, junge Erwachsene und psychisch Erkrankte.

In den Räumlichkeiten von BildungsNetz Zug empfängt Sandro Imfeld an diesem Morgen Géraldine Rossi vom Schulpsychologischen Dienst Zug und Ramon Kunz von der IV-Stelle Zug zu einem gemeinsamen Gespräch. Im Rahmen des Projekts zur Früherfassung von Jugendlichen («FE CM BB»), das von der IV ins Leben gerufen wurde und eine Ausweitung des bereits bestehenden CM BB darstellt, arbeiten die drei regelmässig zusammen. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, Jugendliche beim Übergang von der Schule ins Berufsleben zu unterstützen und zu begleiten – frühzeitig. Warum ist das nötig und wie erkennt man Jugendliche, für die der Weg in die Lehre eine besondere Herausforderung darstellen könnte?

FE CM BB Team low

Ramon Kunz (IV-Stelle Zug), Géraldine Rossi (SPD) und Sandro Imhof (CM BB) im Gespräch.

Das wichtigste Ziel der Weiterentwicklung IV ist die erfolgreiche Eingliederung in den Arbeitsmarkt von Jugendlichen, jungen Erwachsenen und psychisch Erkrankten. Dazu wurden die Früherfassung und Eingliederungsmassnahmen ausgeweitet, die Betreuung ausgebaut und ausserdem die Koordination mit allen am Prozess beteiligten Partnern verbessert. Was heisst das konkret?

Es ist uns ein Anliegen, den Aufwand für die Lehrpersonen möglichst gering zu halten.
Sandro Imhof, CM BB BildungsNetz Zug

Kein einfacher Start

Ihre Lehre begann sie 2019 voller Motivation. Doch eine Essstörung sowie ihre hohen Erwartungen an sich selbst machten ihr zunehmend zu schaffen. «Ich war sehr perfektionistisch veranlagt. Ich war immer gut in der Schule, aber für mich war es nie gut genug. Das hat mich enorm unter Druck gesetzt», erklärt Mariem Almohana. Es folgten lange Ausfälle und mehrere Klinikaufenthalte. «Irgendwann hatte ich einfach keine Energie mehr», fügt sie hinzu. Schliesslich kamen auch noch familiäre Konflikte dazu.

Im Lehrbetrieb sei sie irgendwann nur noch als «die mit den Problemen» wahrgenommen worden. «Das war belastend und es war mir unangenehm», fasst Mariem Alomohana zusammen. Zudem verpasste sie viel Unterrichtsstoff. Sie entschied sich für einen sechsmonatigen Klinikaufenthalt. Dieser hatte aber auch zur Folge, dass ihr Lehrverhältnis beendet wurde.

Ein anschliessendes Praktikum in einem neuen Betrieb verlief enttäuschend. «Es fehlte an Verständnis, ich habe mich nicht wohl gefühlt», sagt sie rückblickend. Bald ging es ihr gesundheitlich wieder schlechter. Ihr wurde bewusst, dass sie die anstehenden Abschlussprüfungen – mittlerweile war sie bereits im dritten Lehrjahr – unter den gegebenen Umständen nicht meistern würde. Gemeinsam mit ihrem Coach Sandro Imfeld – der von der IV beauftragt und finanziert wurde – entschied sie sich, die Lehre abzubrechen und sich erneut in Therapie zu begeben.

Der Aufenthalt in der Frauenklinik und der Umzug in ein betreutes Wohnen markierten einen Wendepunkt. Der räumliche und emotionale Abstand half, neue Kraft zu schöpfen.

fgdfgfdgdfgdfgdfg
Ramon Kunz, IV-Stelle Zug

Eine neue Richtung einschlagen

Als es ihr besser ging, ermutigte sie ihr Coach, sich bei der Bäckerei Nussbaumer zu bewerben. Inhaberin und Geschäftsführerin Manuela Nussbaumer bildet seit über 20 Jahren Lernende aus – viele davon mit besonderem Unterstützungsbedarf. Für sie ist das keine Ausnahme, sondern ihre Philosophie: «Unsere Lernenden sollen sich gesehen und wertgeschätzt fühlen. Wer bei uns ist, erhält die Chance zu wachsen – mit klaren Regeln, aber auch mit viel Menschlichkeit», sagt Manuela Nussbaumer.

Sandro Imfelds Vermutung, dass die Chemie zwischen den beiden Frauen stimmen könnte, trügte nicht. «Mariem und ich haben uns getroffen, sind lange spazieren gegangen und haben miteinander geredet», erinnert sich Manuela Nussbaumer. Grundsätzlich sei es nicht immer einfach, jemanden im dritten Lehrjahr zu übernehmen: «Da wir aber über viel Erfahrung verfügen, habe ich mir überlegt, in welches Team sie am besten passen würde. Ich hatte ein gutes Gefühl – und dann haben wir es einfach gewagt», erklärt sie lachend. Mariem Almohana stimmt ihr zu: «Frau Nussbaumer zeigte viel Verständnis und gab mir eine Chance. Ich habe mich vom ersten Tag an als Teil des Teams gefühlt.»

Vielen Lehrbetrieben ist nicht bewusst, welche Unterstützungsangebote es im Kanton Zug gibt.
Géraldine Rossi, Schulpsychologischer Dienst Kanton Zug

Vertrauen statt Vorurteile

Statt Vorurteilen gab es viele Gespräche und Vertrauen – und die Freiheit, selbst zu entscheiden, was Mariem Almohana über ihre Geschichte preisgeben wollte. Kleine Gesten wie ein Schlüssel zum Laden bewirkten Grosses. «Ich kannte es nicht, dass ich als Lernende bereits so viel Verantwortung übernehmen durfte. Diese Wertschätzung hat mir viel bedeutet. Ich wusste vorher gar nicht, dass man so viel Freude an der Arbeit haben kann», erinnert sie sich mit einem Lächeln im Gesicht. «Ihre grosse Stärke ist der Kundenkontakt, sie hat ein echtes Gespür für die Kundinnen und Kunden. Nicht jeder ist dafür gemacht. Verkauf ist Leidenschaft und die Freude an den Menschen», fügt Manuela Nussbaumer hinzu.

Auch für sie ist Mariem Almohanas Weg etwas Besonderes – aber kein Einzelfall. Sie erlebt oft, wie Jugendliche aufblühen, wenn sie ernst genommen werden und sich in einem klar strukturierten, wertschätzenden Umfeld bewegen dürfen. «Jugendliche brauchen heute andere Rahmenbedingungen als früher. Wer mit jungen Menschen arbeitet, muss bereit sein, sich anzupassen und auch mal loszulassen. Man muss sich dem Zeitgeist anpassen.»

Sie spricht von einer Veränderung in der Ausbildungswelt: Der autoritäre Stil von früher funktioniere heute nicht mehr. Was es brauche, seien Menschen, die zuhören und gleichzeitig einen Raum bieten, in dem die Jugendlichen wachsen – und erwachsen werden – können. «Ich verspreche unseren Lernenden: Wenn du zu uns kommst, dann kannst du nach diesen drei Jahren Lehre etwas. Dann bist du bereit für die Berufswelt.»

Mehr zum Projekt: Früherfassung von Jugendlichen

Seit dem 1. Januar 2022 ist die «Weiterentwicklung der IV» in Kraft: eine Vorlage von Bundesrat und Parlament, die der Invalidisierung vorbeugen und die Eingliederung verstärken soll. Im Zentrum stehen dabei Kinder und Jugendliche sowie Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Diese «Weiterentwicklung der IV» bildet den Grundstein für das Projekt «FE CM BB» (Früherfassung Jugendliche Case Management Berufsbildung) der IV-Stelle Zug. Das Hauptziel ist es, gefährdete Jugendliche noch früher – bereits während der obligatorischen Schulzeit – zu erfassen und zu unterstützen. Für die FE CM BB spannt die IV mit zwei Partnern zusammen: dem CM BB vom BildungsNetz Zug und dem Schulpsychologischen Dienst des Kantons Zug.